INTERVIEW MIT PROF. CARLO MARCHIONE
Guten Tag Herr Prof. Marchione. Sie haben sich mit der Problematik der Artikulation auf der Gitarre sehr viel beschäftigt. Außerdem haben Sie eine langjährige Unterrichtserfahrung in Musikschulen und Musikhochschulen. Sind Sie der Meinung, daß die Artikulation eine der Schwächen der Gitarristen ist?
Leider ja! Das Problem liegt zuerst an den objektiven Schwierigkeiten des Instrumentes (...). Die Gitarre ist ein Instrument, daß mehr als die Geige aber weniger als das Klavier kann. Ein Geiger spielt in der Regel einstimmig, was dem Spieler eine gute Artikulation ermöglicht. Zurecht hat W. A. Mozart z. B. in seinen Violinkonzerten kaum Doppelgriffe geschrieben, weil die Geige so schön artikulieren kann.
Die Gitarrenkompositionen verlangen aber ein mehrstimmiges Spiel und oft ist es schwer genug manche Griffe sauber zu kriegen. Ich war manchmal froh, wenn ich die Melodie nur gut artikulieren konnte (denke dabei besonders an meine langjährige Erfahrung als Kammermusikmusiker)!
Die Pianisten haben ähnliche Probleme wie die Gitarristen, weil sie sich mit mehreren Stimmen gleichzeitig beschäftigen, welche unterschiedliche Artikulation verlangen. Einem Pianisten stehen auf jeden Fall alle zehn Finger zur Verfügung und seine Hände werden nach langjähriger Übung unabhängig voneinander. Dem Gitarristen aber nur vier Finger, die oft drei unterschiedlichen Artikulationen spielen sollten. Das Klavierspiel ist außerdem ein sehr direktes Spiel. Für die Ausführung einer Staccato Note z. B. braucht man die Taste kurz anzuschlagen und den Finger wieder aufzuheben. Auf der Gitarre erfolgt das Staccato, wenn nach dem Anschlag die Saite mit einem Finger der rechten/linken Hand abdämpft wird oder wenn man den Finger der linken Hand von der Saite aufhebt. Das kann oft ein großes Problem sein, wenn man gleichzeitig mehrere Stimmen zu spielen hat. In manchen Fällen ist es beinah unmöglich auf der Gitarre so zu artikulieren, wie der Komponist es vorgeschrieben hat. So ist der Fall an einer Stelle aus den ‚Capriccios de Goya‘ von Castelnuovo – Tedesco. Der Komponist setzte da Staccato und Crescendo für eine Stimme aber gleichzeitig Legato und Decrescendo für die andere Stimme (die einzige mir bekannte überzeugende Aufführung dieser Stelle habe ich durch den deutschen Gitarristen Frank Bungarten erlebt)! Es ist aber wahr, daß ich oft bei Masterklassen Gitarristen von hohem musikalischen und technischen Niveau begegne, die aber sich kaum mit der Problematik der Artikulation intensiv auseinandergesetzt haben. Ich stellte oft Fragen wie z. B. Ausführung einer Synkope oder Tonrepetition, die aber manchmal nicht beantwortet werden konnten.
Was könnte eine mögliche Ursache für diese Unkenntnis sein?
Ich könnte mir mehrere Gründe vorstellen. In der Zeit von Sor und Giuliani war vieles in der musikalischen Interpretation selbstverständlich und die Komponisten haben nur die Ausnahmen geschrieben. Das liegt daran, daß die Musiker der Zeit ‚All Around‘ Musiker waren. Das heißt, sie waren nicht nur Spieler, sondern Komponisten und Theoretiker auch. Daher entstand ein allgemein bekanntes und durch die damaligen Musikern akzeptiertes Artikulationssystem, (und wenn man seine eigene Werke aufführt, weisst man auch wie sie zu artikulieren sind). Sor war auch ein ‚All Around‘ Musiker, so wie früher C. P. E. Bach, L. Mozart, J. Quantz u. v. a..
In der Romantik wird die Subjektive Aussage des Komponisten stets wichtiger und die Komponisten begannen alle Interpretaktionsanweisungen genauestens einzugeben. In dieser Zeit aber sind Gitarristen, wie Regondi am Rande des großen Geschehens. Sie gehörten nicht den Kreisen der großen Komponisten (...). Legnani war vielleicht der einzige Gitarrist, der Kontakt zu den großen Komponisten hatte durch seine Zusammenarbeit mit Paganini. Nach der ‚Lücke’ der Romantik kam dann Francisco Tarrega, ein Gitarrist / Komponist, der aber, abgesehen von einem Etüdenheft, keine im heutigen Sinne Gitarrenschule geschrieben hat und eher sich auf, manchmal kühne und teilweise geniale, Bearbeitungen konzentriert hatte. Im 20. Jh. ist Segovia zweifellos die größte Figur in der Gitarrenszene und dank ihm und späteren großartigen Spieler, wie Bream und Williams haben große Komponisten für die Gitarre komponiert. Doch Segovia war grundsätzlich ein Spieler und ,wenn auch ein großartiger, lag es ihm am wichtigsten, die Stücke nach seinen ästhetischen Idealen aufzuführen. Das sieht man in seinen Ausgaben, wenn man sie mit den Faksimile – Ausgaben der Komponisten vergleicht, wie die von Sor, Ponce und Turina. Daher kann man in Segovias Fall nicht von einer historischen Interpretation sprechen (und daher wurde die Problematik der Artikulation wieder nach vorne geschoben). Seine Spielart hat aber spätere Generationen so stark beeinflusst, daß sie versucht haben, möglichst so wie der große Maestro zu spielen.
Man sieht außerdem in Gitarrenbearbeitungen nach Tarregas Zeit, daß viele Bearbeiter keine Rücksicht auf die Artikulation genommen haben. Die ersten stilistischbewußte Bearbeitungen werden etwas später erscheinen (denke zum Beispiel an das Albeniz-heft von Thomas Müller-Pehring), also nach 1970. Tatsache ist auch, daß viele Gitarristen nicht nach einer Original - Ausgabe suchen. Es gibt z. B. immer noch Gitarristen, die denken, daß ‚Asturias‘ eine Gitarrenkomposition ist. Sie wissen nicht, daß es ein Klavierwerk ist und haben noch nicht eine Klavier–Ausgabe gesehen!
Es liegt aber oft an der persönlichen Einstellung des Lehrers. Ich möchte überhaupt nicht polemisch sein, aber man sollte fragen, wie viele Lehrer sich mit der Artikulation auseinander gesetzt haben. Viele betrachten es als ein späteres Problem, obwohl es dann zu spät sein kann.
Durch meine zehnjährige Unterrichtserfahrung in Musikschulen habe ich sehr lange mit Kindern arbeiten dürfen und dabei gemerkt, daß es ihnen eigentlich sehr natürlich fiel, begriffe wie ‚Staccato’, ‚Legato’, ‚Portato’ aufs Instrument gleich umzusetzen, ich mußte es ihnen nur fragen! Selbstverständlich macht dann das Musizieren ihnen viel mehr Spaß, als ein bloßes ‚die Note runterzuschlagen’. Das kommt daher, daß die Artikulation stark sowohl auf unsere physische als auch psychische Seite auswirkt.
(...)
Oft sagen aber die Eltern, daß ihr Kind nur Spaß am Gitarrenspielen haben möchte. Das ist wieder eine Spätfolge der französische Revolution: Sie haben den Leuten zu glauben gegeben, daß Musik etwas für die große Masse wäre, aber so ist es nicht (leider oder Gott sei dank, weiß ich nicht). Genauso wie bei einem besondere art von Sportlern (denke hier an die Kunsteisläufern) braucht man nicht nur täglich intensive zu trainieren, sonder auch dies bestimmtes Etwas, das weder ein Lehrer (wenn auch ein fantastischer) noch das Geld, das man für den Unterricht ausgibt, schaffen können: die Genialität, das Charisma.
Kennen Sie eine Gitarrenschule, die bestimmte Artikulationsübungen enthält?
Mir ist keine Gitarrenmethode oder Gitarrenschule bekannt, welche die Artikulation ausreichend behandelt (...). In Scott Tenants ‚Pumping Nylon‘ allerdings wird auf einer netten Art versucht, dem Schüler auf andere Gedanken über die Musik zu bringen.(...).
Ab wann kann oder soll ein Lehrer seinen Schülern aufmerksam auf die Artikulation im Spiel machen?
Man sollte natürlich die Kinder nicht zu viel zumuten, aber, wie gesagt sie können viel mehr als man normalerweise denkt und obendrein ist das Problem der Artikulation auf der Gitarre sehr komplex und man kann es nicht in zwei oder drei Jahren hinkriegen. Ich finde es wichtig, daß es in den ersten Jahren schon an ein artikulationsreiches Spielen gearbeitet wird. Hat dann der Schüler eine gute Basis bekommen, so kann er später schwierige Werke einfacher ausführen. Im anderen Fall wird es sehr schwer sein, Werke von hohem musikalischen und technischen Niveau, wie Kompositionen von Walton oder gar Bach zu spielen. Ohne diese Basis (und ich wiederhole: unter ‚guter’ Technick meine ich eine Technik, die nicht nur das schnelles sonder auch ein expressives und artikulationsreiches Spielen ermöglicht) wäre es genauso, als ob man die Uni besuchen möchte ohne davor in die Grundschule und ins Gymnasium besucht zu haben.
Sollte man bestimmte Artikulationsübungen machen?
Choralmelodien sind eine gute Übung, weil sie einen Text drüber haben (was das Artikulationsgefühl erleichtert) oder kleine einstimmige Melodien, wenn sie artikuliert gespielt werden. Ein Lehrer, der sehr kreativ und phantasievoll ist, kann sicher auch andere Übungen erfinden. Es ist aber wichtig, die Schüler ständig auf die Artikulation aufmerksam zu machen (eine falsch ausgeführte Artikulation ist ein Fehler, genauso wie das Spielen einer falschen Note), bis sie auf eigenen Beine stehen können. Bearbeitet man ein Gitarrenwerk für ein Streichtrio um, so sieht man sofort, welche Artikulation jede Stimme erfordert. Ich empfehle außerdem den Lehrern und den Schülern immer nach der Original – Ausgabe zu suchen. Es ist besser eigene Fehler zu machen, als die von anderen zu übernehmen.
Vielen Dank.
Bitte schön!